Jay Marciano: „Technologie erlaubt Übersetzer:innen, sich ganz auf die Bedeutung der Sprache zu konzentrieren“

Jay Marciano, unser Director of MT Outreach & Strategy, spricht im Interview über „Augmented Translation“ bei Lengoo und darüber, wie KI-Technologie den Übersetzungsprozess verändert.

Jay Marciano: „Technologie erlaubt Übersetzer:innen, sich ganz auf die Bedeutung der Sprache zu konzentrieren“
By:
Jay Marciano
Date:
Feb 4, 2021

Jay Marciano ist Lengoos Director of MT Outreach & Strategy und die AMTA (Association for Machine Translation in the Americas) hat ihn kürzlich wieder in den Vorstand gewählt. Jay hat mehr als 20 Jahre Erfahrung in der Entwicklung und Anwendung von Machine Translation (MT). Wir haben mit ihm über „Augmented Translation“ bei Lengoo gesprochen und darüber, wie KI-Technologie den Übersetzungsprozess verändert.

Neuronale Maschinenübersetzung (NMT) – ein Einsatzgebiet von Machine Learning – liefert natürlich wirkende Übersetzungen. Werden Maschinen die Übersetzer:innen auf Dauer überflüssig machen?

NMT ist äußerst präsent und wird sich auch auf die Arbeitsweise der Übersetzer:innen auswirken. Allerdings geht es nicht darum, sie abzuschaffen. Die Digitalisierung verändert unser aller Berufe und Alltag. Allein die Tatsache, dass wir dieses Interview gerade per Videoanruf führen, wäre vor 20 Jahren unvorstellbar gewesen. Der Arbeitsalltag von Übersetzer:innen ändert sich zweifellos durch den zunehmenden Einfluss neuer Technologien.

Warum ist der Wandel, der mit dem Einsatz von NMT einhergeht, so einschneidend?

Jeder größerer technologischer Fortschritt bezüglich der Art, wie Informationen gespeichert, transportiert und abgerufen werden, hat sich bisher auf die Übersetzungsarbeit ausgewirkt: das Schreiben auf Papier statt in Stein zu ritzen, der Einsatz von Druckern und Faxgeräten, die elektronische Speicherung von Übersetzungen oder die Verwendung von Translation Memories. Allerdings müssen wir uns jetzt mit der Tatsache auseinandersetzen, dass Computer zunehmend Aufgaben übernehmen, von denen wir bisher geglaubt haben, dass sie der menschlichen Intelligenz vorbehalten sind - in diesem Fall das Übersetzen selbst. Das ist das Radikale an den Umwälzungen, die mit künstlicher Intelligenz und Machine Learning einhergeht. Bei entsprechend sorgfältigem Training produziert NMT verdammt gute Übersetzungen.

Wie genau verändert NMT die Arbeitsweise von Übersetzern?

Wir müssen unterscheiden zwischen der Arbeit, die Übersetzer derzeit leisten, und der Arbeit, die jemand potenziell leisten könnte, der über die gleichen grundlegenden Fähigkeiten verfügt. Schon heute spielen Computer eine immer größere Rolle im Übersetzungsprozess. Man könnte die Auswirkungen von NMT auf Übersetzer:innen mit der von Rechenmaschinen auf die Arbeit von Ingenieuren vergleichen. Die Menschen haben sich gefragt, womit Ingenieur:innen dann eigentlich ihre Zeit verbringen würden, wenn Rechner die ganze Arbeit für sie erledigen. Nun, es gibt sie immer noch und es bleibt ihnen jetzt mehr Zeit, sich mit interessanteren Dingen zu beschäftigen. Da Computer zunehmend die grundlegenden Übersetzungsarbeiten übernehmen, könnte jemand mit besonders ausgeprägten Sprachkenntnissen und fundiertem Fachwissen in den technischen Bereich wechseln, etwa in Richtung Data Science und Datenkuratierung, die diese NMT-Systeme erst möglich machen. „Sprachingenieur“ wäre vielleicht eine neue Berufsbezeichnung.

KI und Übersetzer:innen arbeiten bei Lengoo bereits zusammen. Könnte man dieses Duo als „Augmented Intelligence“ beschreiben? Dahinter steht die Idee, dass KI-Technologie den Menschen eintönige und sich wiederholende Aufgaben abnimmt, um sie so produktiver und letztlich auch zufriedener zu machen.

So gesehen, ja. Gemeint ist damit meistens, dass Übersetzer:innen Änderungen an der maschinellen Übersetzung vornehmen, die Maschine lernt dadurch stetig vom Menschen, und die maschinelle Übersetzung wird mit der Zeit immer besser. Übersetzer:innen können sich auf die besonders nuancenreichen Bereiche der Sprache konzentrieren. Sicherzustellen, dass diese auch in der Zielsprache korrekt wiedergegeben werden, ist eine hochgradig kognitive Aufgabe. NMT ermöglicht Übersetzer:innen, sich ganz auf das zu konzentrieren, woran sie wirklich interessiert sind: die Bedeutung der Sprache. NMT liefert oft erstaunlich flüssige Übersetzungen, aber wir können uns noch nicht immer darauf verlassen, dass Texte auch tatsächlich korrekt von einer Sprache in die andere übertragen werden. Es muss weiterhin eine fachmännische Kontrolle erfolgen. Es ist sehr wichtig, Übersetzer zu haben, die alle semantischen und stilistischen Nuancen des Ausgangstextes verstehen und sicherstellen, dass diese in der Übersetzung nicht verloren gehen. Das ist und bleibt eine essezielle Fähigkeit.

Abgesehen von „Augmented Intelligence“ taucht in der Branche immer öfter der Ausdruck „Augmented Translation“ auf. Was ist darunter zu verstehen?

CSA Research prägte 2017 den Begriff „Augmented Translation“ und veranschaulicht damit, wie der Übersetzungsprozess der Zukunft aussehen könnte. Das Konzept beruht wiederum auf dem Ansatz der „Augmented Reality“, bei der die menschliche Fähigkeit, die Welt zu erfassen und mit ihr zu interagieren, mit Computersystemen erweitert wird. Das mag beängstigend klingen, aber stell dir vor, du bist auf dem Wochenmarkt und deine Augmented-Reality-Brille erkennt eine dir unbekannte Gemüsesorte, listet ihre Nährwertangaben auf und präsentiert dir auch gleich ein paar Rezeptvorschläge, wie du das Gemüse zusammen mit den Lebensmitteln, die zu Hause hast, zubereiten könntest.

Augmented Translation: „Der Mensch steht im Mittelpunkt und hat  jederzeit Zugriff auf Technologien.“

Im Bereich der Übersetzungsarbeit gibt es viele interessante und nützliche Technologien, die noch nicht optimal in die Übersetzungsarbeit eingebunden sind. Der wesentliche Punkt bei Augmented Translation ist, dass der Mensch zwar im Mittelpunkt bleibt, er aber Zugriff auf Technologien wie Automated Content Enrichment (ACE), Terminologiemanagement, Translation Memories und vollautomatisches Projektmanagement hat. Die Tools müssen natürlich alle reibungslos zusammenarbeiten. Übersetzer:innen behalten die Kontrolle und nutzen diese Technologien, um maximale Effizienz und Qualität aus ihrer Arbeit herauszuholen.

Was von dem Konzept Augmented Translation setzt Lengoo bereits um?

Bisher hat noch niemand Augmented Translation vollständig umgesetzt, aber Lengoo ist auf einem guten Weg. Viele der Voraussetzungen auf dem Weg dorthin erfüllen wir bereits. Wir haben einen Matching-Prozess, um die am besten geeignete Person mit Fachkompetenz für den jeweiligen Auftrag zu finden, und eine Übersetzungsplattform, die den Übersetzer:innen alle notwendigen Tools an die Hand gibt. Und selbstverständlich entwickeln wir unsere kundenspezifischen NMT-Systeme weiter, damit wir maschinelle Übersetzungen generieren, die immer weniger Anpassungen durch Übersetzer:innen erfordern. Hier bei Lengoo betrachten wir „Augmented Translation“ auch gerne aus der umgekehrten Perspektive, im Sinne von menschlicher Intelligenz, die künstliche Intelligenz erweitert. Übersetzer verwenden beispielsweise CAT-Tools (Anm. d. Red.: Computer Assisted Translation), aber genauso notwendig ist ein „TAC-Tool“, der „Translator Assisted Computer“. Im Idealfall erfolgt die Erweiterung der Intelligenz auf beiden Seiten.

Warum ist „Augmented Translation“ die Zukunft?

Es gibt etwa 300.000 Übersetzer:innen auf diesem Planeten, eine Zahl, die in den vergangenen Jahren weitgehend stabil geblieben ist. Demgegenüber schießt die Menge an erstelltem Content geradezu in die Höhe. Jedes Jahr produzieren wir 40 Prozent mehr an Daten als im Jahr zuvor. Die Menge der zu übersetzenden Inhalte wächst also viel schneller als das Volumen, das professionelle Übersetzer:innen bewältigen können. Um auch nur annähernd den prozentualen Anteil an allen jährlich übersetzten Inhalten zu halten, muss sich die Übersetzungskapazität jedes Jahr radikal erhöhen. Ohne Technologie wären das unmöglich. Aber ebenso wichtig ist es, das bisherige ROI-Modell für Übersetzungen zu ändern, wenn wir diese riesige Marktchance nutzen wollen.

Was ist falsch am ROI-Modell?

Es muss wirtschaftlich praktikabel werden, viel mehr Inhalte zu übersetzen. Außerdem brauchen wir innovative Methoden, um den wirtschaftlichen Nutzen von Übersetzungen zu ermitteln. Heutzutage wird eine Vielzahl von Inhalten nicht traditionell übersetzt, weil Unternehmen den Prozess schlichtweg für zu teuer oder zu zeitaufwändig halten. Wenn es uns gelingt, das Kostenmodell für Übersetzungen radikal zu verändern, indem wir das Zusammenspiel von Technologie und Sprachprofis optimieren, dann wird auch die Nachfrage nach Übersetzungen massiv steigen.

Welche Erkenntnisse aus dem vergangenen Jahr werden sich auf den Bereich der maschinellen Übersetzung auswirken?

Das nächste große Thema heißt „Quality Estimation“ (QE) und Durchbrüche auf dem Gebiet werden in den nächsten zwei bis drei Jahren erwartet. NMT-Systeme produzieren eine Übersetzung und ein weiteres neuronales Netz bewertet in einem ersten Schritt die Qualität. Das eine neuronale Netz überwacht quasi das andere, während Expert:innen für das jeweilige Fachgebiet nur die Übersetzungen bearbeiten, die weder das NMT- noch das QE-System bewältigen können.

Warum wird sich QE so stark auf den Übersetzungsprozess auswirken?

Wenn das System zur Qualitätsbewertung sehr sicher vorhersagen kann, dass ein maschinell übersetzter Satz nicht von kompetenten menschlichen Prüfer:innen geändert werden muss, kann der Computer signalisieren: Hey, Übersetzer:innen, um diesen Satz müsst ihr euch nicht kümmern, der geht direkt in die finale Qualitätsprüfung. Das mag sich vielleicht nicht nach besonders viel anhören. Übersetzer:innen werden aber mit QE effizienter arbeiten können, da sie sich auf diejenigen Sätze konzentrieren, die am meisten von ihrer Expertise profitieren.